Am 2. September wurde am Strand von Bodrum in der Türkei die Leiche des dreijährigen Aylan (bzw. Alan) Kurdi angespült. Ein Foto, das das syrische Flüchtlingskind tot am Strand liegend zeigt, aufgenommen von der Bodrumer Pressefotografin Nilüfer Demir, geht seitdem um die Welt und hat eine Diskussion über die Frage entfacht, ob es ethisch in Ordnung ist, so ein Foto zu veröffentlichen. Bereits einige Tage zuvor hatte ein Foto von zusammengepferchten Leichen in einem LKW, das die Kronenzeitung nach dem Flüchtlingsdrama auf der österreichischen Ostautobahn gedruckt hatte, für Beschwerden beim Presserat gesorgt. Doch auch wenn das Foto des toten Jungen im Vergleich zu dem offenbar aus Polizeikreisen geleakten Bild aus Österreich einen fast schon friedlichen Anblick bietet, verstört es viele Menschen aufgrund der Wucht, mit der es vor Augen führt, was die Implikationen der europäischen Flüchtlingspolitik sind.
Gerade wegen dieser Wucht wurde in den letzten Tagen vielfach argumentiert, ein solches Foto sei den Lesern nicht zuzumuten. Oder wenn, dann wenigstens nicht ohne eine Art Triggerwarnung – wie es etwa das BILDblog bei seiner Berichterstattung zu der Kontroverse macht. Andere wägen ab zwischen den Unannehmlichkeiten für die psychische Verfassung des Betrachters einerseits und den Chancen auf eine asylfreundliche Meinungsbildung andererseits. Also sozusagen: Wenn nur genügend Leute von dem Foto geschockt sind, wird es zu einem Umdenken in der europäischen Flüchtlingspolitik kommen. Und tatsächlich mag die Tatsache, dass den derzeit aus Ungarn einreisenden Flüchtlingen eine Welle der Solidarität entgegenschlägt, mit dem Foto oder wenigstens dem Tod von Aylan Kurdi zusammenhängen. Wieder andere halten genau diese Denkweise für verwerflich, weil das Foto gewissenlos zur Meinungsmache ausgeschlachtet werde. Ich erspare den Lesern die Vielzahl von Links zu den geäußerten Meinungen – im oben genannten BILDblog-Artikel ist das alles bereits bestens dokumentiert. (Was die Fotografin übrigens zu dem Thema sagt, gibt es hier zu lesen.)
Doch all diese Abwägungen gehen meiner Ansicht nach in die falsche Richtung: Denn die Unbilden beim Betrachten des Fotos tun nichts zur Sache.
Man kann natürlich darüber reden, ob das Persönlichkeitsrecht des Kindes oder das seiner Familie betroffen ist, aber eine Selbstzensur, die einzig und allein auf das Heile-Welt-Gefühl des Betrachters Rücksicht nimmt, halte ich für falsch. Natürlich kann jedes Medium, ob klassische Presse oder Blog, entscheiden, was veröffentlicht wird. Natürlich kann man sagen: Ich möchte das meinen Lesern nicht zeigen. Genauso kann man ja auch sagen: Ich möchte über dieses Thema nicht berichten. Aber diese Entscheidung sollte stets eine journalistische und keine opportunistische sein. Als journalistisch arbeitendes Medium hat man die Aufgabe, Informationen für die Leserschaft aufzubereiten. Wer aber dabei gar zu sehr auf Befindlichkeiten seiner Leser Rücksicht nimmt, ist keinen Deut besser als jemand, der auf Befindlichkeiten der Anzeigenkunden Rücksicht nimmt.
Ich weiß, das alles klingt sehr harsch. Deshalb muss ich wohl klarstellen, dass es mir nicht primär darum geht, die Entscheidung gegen eine Veröffentlichung dieses Fotos als solche zu kritisieren. Auch ich selbst sehe von einer Veröffentlichung ab, wenngleich praktischerweise mit der Begründung, dass ich nicht die nötigen Rechte an dem Bild habe. Nein, es geht mir mehr darum, dass ich davor warnen möchte, die eigene journalistische Freiheit an den Massengeschmack zu verkaufen.
Und es geht ja nicht nur um die journalistische Freiheit, sondern generell um das Recht, Dinge zu publizieren. Dieses Recht ist in Deutschland relativ weitgehend. Gar nicht veröffentlicht werden darf eigentlich nur volksverhetzendes und kinderpornographisches Material sowie Dinge, die fremde Persönlichkeitsrechte beschneiden (namentlich seien hier das Recht am eigenen Bild sowie (in verschiedenen Abstufungen) Beleidigungen/„Ehrverletzungen“ genannt). Das meiste andere unterliegt zwar gegebenenfalls den Bestimmungen des Jugendschutzgesetzes, ist aber grundsätzlich erlaubt.
Fast genauso wichtig wie die rechtliche Situation aber ist das, was gesellschaftlich akzeptiert ist. Auch in den USA beispielsweise darf man – zumindest im Prinzip – nackte weibliche Brüste zeigen oder das Wort „fuck“ benutzen. Trotzdem wird man in durchschnittlichen Hollywood-Produktionen eher auf zerfledderte Leichen als auf Brustwarzen stoßen. Und trotzdem ist es nicht unüblich, das böse F-Wort (und natürlich das böse C-Wort) „auszubleepen“ oder – in der Schriftform – durch entsprechende Auslassungen à la „f**k“ zu ersetzen. Offenbar ist es zwar in Ordnung, das Pejorativum „cunt“ zu denken und zu meinen (und in der entsprechenden Peergroup auch zu sagen), aber nicht in Ordnung, es zu senden oder zu schreiben.
Die augenblickliche Debatte um den Umgang von Facebook mit volksverhetzenden Postings einerseits (nämlich: ignorieren) und solchen mit Fotos von weiblichen(!) Brustwarzen andererseits (nämlich: löschen), führt anschaulich vor Augen, wie inkompatibel unterschiedliche Moralvorstellungen sein können. Aber sie zeigt auch, wo die Reise hingeht: Zurück nämlich zu einer verklemmten Gesellschaft, die das Wohlfühlgefühl des Rezipienten über alles stellt. Denn wenn Facebook Tittenfotos löscht, dann geht es dem Konzern ja nicht darum, etwas gegen die Reduzierung von Frauen auf das Äußere oder dergleichen zu unternehmen. Es geht um die comfort zone der User (und die der Werbetreibenden). Wären Flüchtlinge eine ernstzunehmende Zielgruppe für Anzeigenkunden in Deutschland – was meint Ihr, wie lange würde es wohl dauern bis Facebook volkshetzende Postings löschen würde?
„Wir dürfen davor nicht die Augen verschließen…“, ist eine Phrase, die gerne dann zu hören ist, wenn Politikern kein sinnvoller Debattenbeitrag einfallen will, aber trotzdem Betroffenheit gezeigt werden soll. Wichtiger aber ist, dass die Dinge, vor denen man die Augen verschließen könnte, nicht schon vorher unsichtbar gemacht werden. Nein, man muss sich nicht alles Elend dieser Welt 24 Stunden am Tag ununterbrochen reinziehen. Aber die Filterung hat im Endgerät stattzufinden (Stichwort: Medienkompetenz).
Oder wie es der großartige Comedian George Carlin einst in Hinblick auf die Zensurbestrebungen von Donald Wildmon sagte: „Well, Reverend, did anyone ever tell you there are two KNOBS on the radio? (…) One of them turns the radio OFF, and the other one – CHANGES THE STATION!“